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Mach's einfach! ...und sprich darüber.

Die Volksschule ist dabei, sich zu wandeln. Viele sind sich bewusst, dass zwei Drittel unserer Kinder später in Jobs arbeiten werden, die es heute noch nicht gibt. Es wächst die Erkenntnis, dass in unmittelbarer Zukunft die sogenannten soft Factors zu hard Factors werden und somit entscheidend sind im Auswahlverfahren und dem beruflichen Erfolg. Dabei handelt es sich um Fähigkeiten wie Empathie, Kreativität, kritisches Denken, Kollaboration, komplexes Problemlösevermögen und aktives Lernen. Oder ganz einfach: Neugier.


Letzteres kennen unsere Lernenden heute kaum. Viele sind sich gewohnt, dass sie in einzelnen Lektionen von Lehrpersonen berieselt werden, die genau aussuchen, was letztlich an der Prüfung relevant sein wird. Es wird auswendig gelernt, aufs Blatt geschrieben und wieder vergessen. Die Kinder lernen in solch einem System vor allem eins: Die Erwartungen der Lehrperson zu erfüllen. Diese beurteilt am Ende des Semesters die erbrachten Leistungen und akkreditiert sie numerisch auf einer Skala von eins bis sechs. Kritisches Denken ist an einer Prüfung meist nicht gefragt, und bitte auch ja nicht kreativ werden, denn darunter leidet die Punktzahl. Da zusätzlich alle miteinander im Wettbewerb stehen, ist auch Kollaboration ein selten gesehenes Phänomen. Viel öfter verbirgt man Informationen voreinander, denn das könnte ja einem anderen zum Vorteil werden…


Trugschluss selbstorganisiertes Lernen: Warum ein schrittweiser Übergang schwierig ist


Um davon wegzukommen, braucht es Individualisierung, also die Orientierung am Individuum und dessen höchst individuellen Lernwegen. Gleichzeitig steht da aber die Pflicht, dass Lehrpersonen ihre Lernenden beurteilen müssen. Nun, wie kann dies gelingen? Viele Lehrpersonen versuchen, die zahlreich geforderten Kompetenzen des Lehrplans zu überblicken, sie sorgfältig auf die oft über zwanzig Individuen in der Klasse herunterbrechen und dann noch individuelle Beurteilungen durchführen… Ich kenne viele überaus engagierte Lehrpersonen, die dieses administrative Jonglieren tatsächlich ausprobieren und daran festhalten. Mit dem Resultat, dass ich von Kolleginnen und Kollegen höre, der Job nehme ihnen 80% an Energie und gebe lediglich 20% zurück. Dieses Missverhältnis führt Betroffene oft geradewegs an die Wand. Wenn ich Lehrpersonen damit konfrontiere, dass wir noch mehr loslassen müssten, dann höre ich verständlicherweise immer wieder Argumente wie: “Da habe ich dann aber ständig Reklamationen der Eltern!”, “es gibt Kinder, die wären da total überfordert!”, “da kommen sie bei der nächsten Lehrperson aber auf die Welt, diesen Wandel müssten alle machen” oder “das verstösst gegen die gesetzlichen Vorgaben”. Das wiederum führt dann dazu, dass viele sagen: “Ich individualisiere einfach so gut ich kann und behalte den Überblick und die Kontrolle”. Gerade dieser Balanceakt ist jedoch leider oft zum Scheitern verurteilt. Wenn Lehrpersonen ihren Unterricht nur punktuell öffnen, also einige wenige offene Fragestellungen in den breiteren, vorgegebenen Kontext einbauen, ist das lediglich ein «Tropfen auf dem heissen Stein» Schlimmer noch wird es, wenn wir digitale Administrationsapparate hinzuziehen, in denen Kinder wochenplanmässig selbständig von der Lehrperson vorgegebene Aufgaben abarbeiten. Das Resultat ist, dass man tatsächlich merkt, dass einzelne mit der “Freiheit” überfordert sind. Das Problem liegt jedoch in der Regel nicht an der Freiheit, sondern vielmehr daran, dass diese eben gar nicht wirklich vorhanden ist. Man delegiert einfach die Verantwortung für das Erreichen äusserer Vorgaben an die Kinder. Die Lernenden kommen dann noch viel öfters und fragen bei der Lehrperson nach, ob das, was sie da machen, wirklich gut ist, denn das wollen sie ja alle: Gut sein. Die Lehrperson bewertet, also versuchen die Lernenden das zu tun, was aus ihrer Sicht von ihnen erwartet wird, um eine gute Bewertung zu erzielen. Für eine wirklich individuelle Beurteilung fehlt dann leider oft die Zeit. Viele Lehrpersonen meinen deshalb, wenn man sie danach fragt: «Ich habe es ja probiert, aber das hat nicht funktioniert!»


Wie offener Unterricht in Volksschulstrukturen aus meiner Sicht gelingen kann: Selbstbestimmtes Lernen


Ich habe mich mittlerweile daran herangetastet, was in der Volksschule möglich wäre. Mit dem wunderbaren Resultat, dass ich dabei entspannt bin, die Kinder auch und ich bislang keine negativen Feedbacks erhalten habe:


In den zwei Fächern Medien und Informatik sowie Zeichnen habe ich gewagt, den Schülerinnen und Schülern von Anfang an eine schweizer 5.5 (Deutschland: 1.5) im Zeugnis zuzusichern. Ich habe ihnen gesagt, dass ich wisse, dass sie das packen und sehr gute Leistungen erzielen würden. (Ich habe nicht um Erlaubnis gebeten, sondern einfach gemacht. Wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir die Verantwortung dafür in die eigenen Hände nehmen.) Dann habe ich das Feld geöffnet.


Im Zeichnen ist dann ein Bild entstanden, das mich dazu veranlasst hat, meine positiven Erfahrungen zu Papier zu bringen. Ich meine, die Resultate stehen sinnbildlich für den sozialen Zustand der Klasse, den inneren Zustand der Kinder und die erblühende Kreativität im Gestaltungsunterricht.


Nebenan malen doch tatsächlich drei Mädchen miteinander an einem gemeinsamen Bild, einem wunderschönen Landschaftsbild, gehüllt in Polarlichter. Sie hätten am Morgen in der Bibliothek davon gelesen, meinten sie. Wunderbar, wie dieser kreative und nicht planbare Anstoss nun aufs Blatt fliesst. Ein anderer Schüler gestaltet bewegte Bilder, wieder andere zeichnen perspektivisch. Und eine Dreiergruppe, die gerade nicht zeichnen mag, spielt draussen Ping-Pong, um dann später eine eigene Idee zu entwickeln. Viele Lehrpersonen kennen das vielleicht ebenfalls: Kinder kommen im Zeichnungsunterricht ständig zu ihnen und fragen: “Ist das gut so?” Dies als Zeichen des Wunsches, die Erwartungen zu erfüllen, denn nur so können sie sich an eine gute Note herantasten. Mir wird diese Frage im Unterricht kaum mehr gestellt. Stattdessen habe ich Zeit, um zum Beispiel zwei Schüler dabei zu unterstützen, wie sie am Computer Bilder bearbeiten oder zeige einem anderen, wie er ein Auge realistisch zeichnen kann.


In Medien und Informatik habe ich ähnliche Lernvoraussetzungen geschaffen: Keine Angst vor Bewertung, keine Fremdbestimmung. Verschiedene Geräte stehen bereit, um erkundet zu werden. Über Drohnen zu programmierbaren Robotern, Tablets und Laptops: Alles ist da. Einige üben sich in den Grundlagen des Programmierens. Sie erteilen in einem simplen App Anweisungen an einen digitalen Roboter, der von Feld zu Feld läuft und dann ein Licht leuchten lässt. Gewisse schwierigere Aufgaben muss man mit Schleifen lösen. Andere fahren Wettrennen mit Spheros, wiederum andere programmieren sie für einen Slalom. Da gibt es eine Schülergruppe, die einen Diskoroboter programmiert, der ständig seine Farben wechselt und «Party Party Party» sagt, während ein Mädchen ein eigenes Spiel programmiert und ein anderes mit Sratch ein digitales Musical mit Bildern ihres Lieblingsstars inszeniert. Und ein paar Schüler schreiben auf englisch Nachrichten auf der “ChatWithAStranger” Plattform und vereinbaren imaginäre Dates. Ich schaue zu und spreche an, was sie da machen. Gemeinsam führen wir ein Gespräch über Sicherheit im Internet und moralische Grundsätze in der digitalen Kommunikation. Dies nur ein paar Beispiele dazu, wie echte Lerneffekte inszeniert werden können, wenn ich den Unterricht nicht von mir aus Punkt für Punkt vorbereite und künstliche Szenarien kreiere, die dann womöglich an den Lernenden vorbeigehen.


Zum Zeitpunkt, als ich diesen Artikel geschrieben hatte, (~Ende 2019) war dies der Stand meiner Exploration in selbstbestimmte Welten. 2020 öffnete ich dann komplett, indem ich alle Fächer eines Tages zusammenlegte und den Kindern die Möglichkeit bot, ihren ganz eigenen Projekten anchzugehen. Ab und zu nutzte ich das Format Barcamp, indem ad-hoc eine Agenda mit verschiedenen Lernräumen erstellt wird, wo die Kinder ihre eigenen Themen einbringen. Dies, um die ganze Klasse zu aktivieren, indem die aktiveren ihre Projekte sichtbar machten und die zurückhaltenderen sich anschliessen können. So wurde dann während einem Morgen oftmals parallel Fussball gespiel, gezeichnet, programmiert, 3D designt, Videos gedreht und musiziert. Oder manchmal brachten sich ein paar Kinder mit Migrationshintergrund auch gegenseitig ihre Muttersprache bei.


Am Schulwandel.Barcamp von 14.5.21 zum Thema "Wer macht was? Ich mach das!" kannst du das Format selber erkunden und viele gleichgesinnte Macherinnen und Macher aus dem Bildungsbereich kennenlernen. Tickets gibt's hier: https://eventfrog.ch/de/p/diverses/schulwandel-barcamp-6716322714136638128.html


In promotionsrelevanten Fächern ist es schwieriger


Natürlich mag man einwenden, dass es einfacher ist, Noten in musischen Fächern zu relativieren, als dies in ihren promotionsrelevanten Pendants der Fall ist. Gibt man auf der Mittelstufe beispielsweise allen eine 5.5 in Mathematik, dann lässt sich eine Einteilung in ein niedrigeres Leistungsniveau nicht mehr legitimieren. Das stimmt. An diesem Punkt stelle ich die Sinnhaftigkeit dieses Selektionsmechanismus grundsätzlich in Frage. Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der die jeweiligen Abschlüsse sukzessive relativiert werden. Dies einzusehen gäbe uns die Möglichkeit, solche überholte Strukturen zu revidieren. Das müsste allerdings auf politischer Ebene passieren. Bis dahin erachte ich es als sinnvoll, zumindest teilweise die Voraussetzungen so anzupassen, dass gewisse leistungsschwächere Kinder weniger extreme Negativerfahrungen machen. Bei mir galt daher die Devise, dass kein Kind ungenügend ist. Ich gab also jeweils Noten auf einer Skala von 4 bis 6. Dies nimmt einigen schon viel Druck von den Schultern und lässt die Möglichkeit, gelassener an den jeweiligen Fachbereich heranzugehen. Heute würde ich allerdings selbst in diesen Fächern einfach eine einheitliche, sehr gute Note geben. Gerade die Pandemiesituation hat uns klar vor Augen geführt, wie relativ die ganzen Bewertungsmechanismen doch sind. An vielen Orten wurde deswegen auch gar auf ein Zeugnis verzichtet. Wieso also nicht das Ganze relativieren? Wenn alle auf ihren Niveaus arbeiten, sind halt eben alle auch sehr Gut. Punkt. Zudem bietet der Lehrplan 21 grundsätzlich einen grossen Interpretationsspielraum. Die darin umschriebenen Kompetenzenraster werden von vielen Lernenden innerhalb des jeweiligen Zyklus erreicht und Lehrpersonen könnten individuelle Gespräche führen, in denen die jeweiligen Kompetenzen angerechnet werden könnten. Nutzt man diese Basis und sieht davon ab, die Leistungen zusätzlich noch auf einer Skala abzubilden, dann wäre schon einiges getan. An unserer Schule (https://www.lernhaussole.ch), die im Sommer 21 eröffnet, drehen wir den Prozess dementsprechend um: Die Lernenden bewegen sich selbstbestimmt durch eine inspirierende Lernumgebung. Die Erwachsenen haben die Funktion der Lernbegleitung inne: Sie unterstützen, beantworten Fragen, machen hin und wieder einen Input auf freiwilliger Basis und dokumentieren retrospektiv die Lernprozesse in Mirroco. Ein von Hazu mit der EPFL Lausanne entwickelter Algorithmus wird uns künftig sogar dabei unterstützen, die erreichten Lehrplanziele aus den geschriebenen Lernberichten herauszukristalliseren, sodass uns sogar noch mehr Zeit für das Wesentliche zur Verfügung steht, nähmlich die Lernbegleitung.


Fazit


Ich hoffe es wird klar: Hier wird gelernt. Mit Noten und Vorgaben aus dem Lehrplan hat das in erster Linie wenig zu tun. Je mehr wir die Kinder «gängeln», desto tiefer die Motivation und je mehr wir ebendiese Voraussetzungen relativieren, desto nachhaltiger werden die Lernprozesse. Die Methodenfreiheit lässt mir grundsätzlich den Freiraum, meinen Unterricht so zu gestalten, wie ich das tue; im tiefen Vertrauen darauf, dass die im Lehrplan vorgeschriebenen Kompetenzen gerade auf diese Art und Weise ebenfalls und vor allem nachhaltig erreicht werden. Gerade deshalb müssen wir meines Erachtens einen aktiven Dialog führen wie wir immer mehr solche Freiräume kreieren können, damit wir den Lernenden ermöglichen, ihren individuellen Interessen kreativ und eigenständig nachzugehen. Ich hoffe, dass die Kinder an der Volksschule bald einmal so lernen dürfen, wie sie das schon heute zum Beispiel an freien Schulen tun: Möglichst frei von Druck und Zwang. Dann nämlich entfalten sie ihr volles Potenzial; lernen sie, wie sie sich sozial begegnen und wie sie sich jegliches Wissen effizient selber erschliessen können, immer dann, wenn sie es brauchen, denn:


"Kollaborative Lerngemeinschaften werden zu den Problemlösern in einer Welt, in der Agilität, Kreativität und Innovation erforderlich sind, um zukünftige Herausforderungen zu meistern.", Janina Lin Otto

Zusammen mit ihrem Mann Benjamin Otto arbeitet Janina gerade an Life.Hamburg, einem wegweisenden Zukunftsprojekt, das unter anderem von Learnlife inspiriert wurde.



In einem Lego Serious Play Workshop, den ich mit Lehrpersonen der Schule Adliswil durchgeführt hatte, brachten die Lehrpersonen zu Tage, das der eine zentrale Einflussfaktor, der den Wandel bringen kann, die eigene Haltung ist:

Deswegen: Du bist der Wandel! Mach's einfach und sprich darüber!


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